Der Name klingt nach Glück, nach Schicksal: Arbor Felix, der glückliche Baum. So nannten die Römer ihre befestigte Siedlung auf jenem Sporn, der sich ins südliche Bodenseeufer schiebt. Um 280 nach Christus herum, als die Reichsgrenze nach dem Rückzug vom Obergermanisch-Raetischen Limes neu gezogen werden musste, entstand hier ein Kastell. Warum gerade hier? Strategische Lage, klar. Verkehrstechnische Überlegungen, auch. Aber vielleicht spielte auch eine religiöse Bedeutung mit: Römische Priester begruben ihre abgeschnittenen Haare traditionell unter einem arbor felix, einem segenbringenden Baum.
Die Stadtmauern von damals stehen noch, zumindest in Teilen. Beim Spaziergang durchs heutige Schlossareal stößt man auf den Wachtturm, auf Reste der alten römischen Verteidigungsanlagen. Ein geschickt angelegter Rundweg führt in knapp 15 Minuten durch 5500 Jahre Siedlungsgeschichte – das ist so verdichtet, dass einem schwindelig werden kann. Das Kastell selbst wurde nach 403 nach Christus zwar nicht mehr römisch verwaltet, aber die Bevölkerung blieb und nutzte die Anlage weiter. Siedlungskontinuität nennen das die Archäologen nüchtern.
Noch viel älter als die römischen Fundamente ist das, was tief unter einem unscheinbaren Parkplatz schlummert. Die Pfahlbausiedlung Arbon-Bleiche 3 gehört seit 2011 zum UNESCO-Welterbe. Zwischen 1993 und 1995 legten Archäologen über 1100 Quadratmeter frei und fanden heraus, dass das erste Haus 3384 vor Christus gebaut wurde. Über acht Jahre wuchs die Siedlung, bis 3370 vor Christus ein Brand alles zerstörte. Die Häuser standen übrigens nicht im Wasser, wie lange vermutet wurde, sondern auf Pfählen über sumpfigem Boden. Rund 21 Quadratmeter Grundfläche hatten diese jungsteinzeitlichen Behausungen – für damalige Verhältnisse gar nicht mal so klein.
Im Historischen Museum im Schloss Arbon wird diese prähistorische Zeit lebendig inszeniert. Originalfunde liegen dort in Vitrinen, daneben Modelle und Rekonstruktionen. Die bronzezeitliche Siedlung an derselben Stelle wurde später sogar namengebend für eine ganze Kultur: Die Arbon-Kultur ist in der Nordschweiz und Süddeutschland verbreitet. Das alles unter einem Parkplatz zu wissen verleiht dem Besuch eine seltsam demütige Note.
1255 erhielt Arbon von Bischof Eberhard von Waldburg das Stadtrecht. Das Schloss, Wahrzeichen der Stadt, wurde 1515 von Bischof Hugo von Hohenlandenberg umgebaut – der Bergfried selbst stammt aus dem Jahr 993 und ist am grauen Gemäuer noch klar zu erkennen. Das Schloss ist gleichzeitig Museum und architektonisches Zeugnis verschiedener Epochen.
Direkt am Schloss liegt die katholische Kirche St. Martin, dahinter die kleine Galluskapelle aus dem Jahr 1000. In dieser Kapelle findet sich ein Stein mit angeblichen Fußspuren des Heiligen Gallus – der Legende nach kämpfte er hier während einer Predigt mit dem Teufel in Gestalt eines Bären. Solche Geschichten haben was. Ob man sie glaubt oder nicht, spielt keine Rolle, sie gehören zum Ort wie die Kastanien an der Seepromenade.
Mittendrin, umgeben von alten Häusern, liegt der Fischmarktplatz mit seinem zentralen Brunnen. Von April bis Oktober finden hier monatlich Flohmärkte statt – dann wird das Pittoreske schnell lebendig und ein bisschen trubelig. Im Dezember lockt der Christkindlmarkt, bei dem ausschließlich handgefertigte Waren verkauft werden. Vom Schlossturm erklingen dann Adventsmelodien über die Altstadt.
Als Arbon zur Industriestadt wurde
Was heute so beschaulich wirkt, war im 19. Jahrhundert eine boomende Industriestadt. Zwischen 1860 und 1910 explodierte die Bevölkerungszahl förmlich – zeitweise war Arbon sogar die größte Stadt des Kantons Thurgau. Der Grund: Textil- und Maschinenindustrie siedelten sich an. Die Familie Saurer prägte Arbon wie keine andere. Franz Saurer gründete 1863 eine mechanische Werkstätte, die sich rasch zum bedeutendsten Schweizer Lastwagenherstellter entwickelte.
1904 verließ der erste vollständig in Arbon konstruierte Lastwagen die Werkshallen – der Beginn einer Ära. Daneben produzierte Saurer Stick- und Webmaschinen, die weltweite Verbreitung fanden. Um 1911 beschäftigte das Unternehmen rund 1500 Arbeiter. Parallel dazu wuchs die Stickerei-Industrie: Arnold Baruch Heine, der sogenannte Stickerkönig, beschäftigte zur gleichen Zeit 2200 Menschen. Arbon war damals alles andere als ein verschlafenes Seestädtchen – es war laut, es roch nach Öl und Kohle, Schichtarbeiter bevölkerten die neuen Quartiere rund um die Fabriken.
Die Gebäude aus dieser Zeit prägen noch heute das Stadtbild, vor allem südlich der Altstadt. Arbeitersiedlungen wie Neustadt, Bleiche und Stacherholz erzählen von jener Phase, in der Arbon zur Industriehochburg wurde. 1983 rollte der letzte zivile Lastwagen vom Band, 1986 das letzte Militärfahrzeug. Heute gehört die Saurer AG zu einer chinesischen Gruppe, entwickelt wird noch in Arbon, produziert wird in China.
Das Saurer Museum – Nostalgie mit PS
Was von der großen Zeit geblieben ist, lässt sich im Saurer Museum bestaunen. Direkt am See gelegen, in einer ehemaligen Werkhalle, stehen rund 20 historische Fahrzeuge: Lastwagen, Busse, Militärfahrzeuge, Feuerwehr- und Postautos. Der berühmte Caminhão von 1911, der nach Brasilien exportiert und 2002 zurückgeholt wurde, ist ein Highlight. Daneben Stick- und Webmaschinen aller Generationen, die bei Führungen sogar in Betrieb genommen werden – das Klappern und Rattern versetzt einen sofort in eine andere Zeit.
Das Museum wird komplett von Freiwilligen betrieben – über 60 Mitglieder des Oldtimer Club Saurer arbeiten hier aus Überzeugung. Es gibt noch ein zweites Depot im ehemaligen Werk II mit weiteren Exponaten. Wer sich für Ingenieurskunst und Industriegeschichte interessiert, kann hier locker zwei Stunden verbringen. Nebenan, in der ehemaligen Kantine, befindet sich heute das Hotel Wunderbar – der Name passt.
Most, Äpfel und eine interaktive Mosterei
Arbon und das Thurgau sind Apfelland. Die Mosterei Möhl verarbeitet seit 1895 Äpfel zu Saft, Most und Apfelwein. Das Schweizer Mosterei- und Brennereimuseum MoMö zeigt auf interaktive Weise die gesamte Kette vom Baum bis zur Flasche. Antike Pressen, Obstmühlen, Laborgeräte und Geschichten von Obstbauern, Imkern und Brennern machen das Museum lebendig. Es gibt Degustationen – und wer ehrlich ist, kommt hauptsächlich deswegen. Der Most hier ist typisch für die Region, leicht herb, erfrischend.
Während der Blütezeit, wenn die Obstbäume im Hinterland von Arbon in voller Pracht stehen, wird die Landschaft zum Postkartenmotiv. Die Arboner nennen das „Bluescht" – und tatsächlich lohnt es sich, im Frühling eine Wanderung durch die Obstgärten zu unternehmen.
Zwischen Altstadt und Seeufer – Arbon heute
Heute ist Arbon mit knapp 16.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt im Kanton Thurgau. Die Altstadt ist ins Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz aufgenommen. Die drei Kilometer lange Uferpromenade führt durch eine Kastanienallee, vorbei an Grünflächen, Strandbad und Hafen. Im Sommer herrscht hier Betrieb – Segler, Stand-up-Paddler, Familien mit Kindern. Das Strandbad Buchhorn mit seiner großen Liegewiese wurde Anfang des 20. Jahrhunderts angelegt.
Arbon liegt günstig für Ausflüge. St. Gallen ist nur zehn Kilometer entfernt, die Grenze zu Deutschland und Österreich nicht weit. Man kann von hier aus Radtouren unternehmen, auf dem Bodensee-Radweg weiterzufahren oder ins Appenzellerland. Die Lage ist perfekt für jene, die Ruhe und Nähe zu größeren Städten kombinieren wollen.
Im Juni findet das Seenachtsfest statt – mit Lunapark an der Seepromenade und nächtlichem Feuerwerk. Im August gibt es das SummerDays Festival, ein Open-Air-Konzert, das regelmäßig ausverkauft ist. Auch einen Ostermarkt und Christkindlmarkt gibt es. Wer mag, kann am SlowUp Bodensee Schweiz teilnehmen, wenn Ende August die Straßen für den Autoverkehr gesperrt sind und Tausende mit dem Rad unterwegs sind.
Zwischen zwei Kriegen und dem Strukturwandel
Nicht alles war immer idyllisch. Während des Zweiten Weltkriegs schrumpfte die Bevölkerung markant – die Nähe zum Deutschen Reich auf der gegenüberliegenden Seeseite machte Arbon zur schweizerischen Randregion, viele flohen. Nach dem Krieg erholte sich die Stadt rasch. 1998 wurde die Ortsgemeinde Frasnacht eingemeindet, was die Einwohnerzahl nochmals steigen ließ.
Der Niedergang der Textilindustrie in der gesamten Ostschweiz traf auch Arbon. Die große Zeit der Stickerei war nach dem Ersten Weltkrieg vorbei, die Mode hatte sich geändert. Was einmal das wichtigste Exportgut der Schweiz gewesen war, brach zusammen. Aus der Industriestadt wurde nach und nach ein Wohnort mit historischem Charme.