Wer am Bodensee zur Fasnetszeit nach dem Karneval fragt, erntet bestenfalls mitleidige Blicke. Schlimmstenfalls einen Vortrag darüber, dass die schwäbisch-alemannische Fasnet mit dem rheinischen Karneval ungefähr so viel zu tun hat wie ein Brezel mit einer Currywurst. Tatsächlich unterscheidet sich das närrische Treiben zwischen Konstanz, Ravensburg und Überlingen fundamental vom bunten Straßenkarneval in Köln oder Mainz. Hier geht es nicht um Büttenreden und Pappnasen, sondern um Tradition, Handwerk und Brauchtum, das teilweise Jahrhunderte zurückreicht.
Die Wurzeln der Fasnet liegen nach volkstümlicher Überlieferung im vorchristlichen Brauchtum. Viele Narren der Region berufen sich auf heidnische Rituale zum Winteraustreiben, auch wenn Historiker hier gerne etwas differenzierter argumentieren. Fest steht: Die Masken und Figuren, die durch die Gassen ziehen, erzählen Geschichten. Manche von ihnen sind so alt, dass niemand mehr genau weiß, wann sie zum ersten Mal aufgetaucht sind. Das macht die Sache natürlich nur noch spannender.
Der Ablauf – von Dreikönig bis Aschermittwoch
Offiziell startet die Fasnet am 6. Januar, am Dreikönigstag. Ab diesem Zeitpunkt sind die Narrenzünfte aktiv, auch wenn das große Spektakel erst später losgeht. In den Wochen bis zum Schmotzigen Dunschtig finden Bälle statt, Narrenbäume werden gesetzt und bei verschiedenen Veranstaltungen proben die Hästräger schon mal ihre Auftritte. Richtig wild wird es dann ab dem Schmotzigen Dunschtig, dem Donnerstag vor Aschermittwoch. An diesem Tag übernehmen vielerorts die Narren symbolisch die Macht, stürmen Rathäuser und befreien Schulkinder vorzeitig aus dem Unterricht.
Das Wochenende danach gehört ganz der Fasnet. Samstags und sonntags ziehen in nahezu allen Bodenseegemeinden die großen Umzüge durch die Straßen. Anders als beim rheinischen Rosenmontagszug geht es hier nicht um Motivwagen mit politischen Anspielungen, sondern um die Präsentation der einzelnen Zünfte mit ihren traditionellen Häs. Dabei kann ein einziger Umzug mehrere Stunden dauern, weil jede Gruppe ihre ganz eigene Choreografie hat und manche Figuren regelrechte Performances abliefern.
Am Fasnetsdienstag folgen noch einmal Umzüge und Veranstaltungen, bevor am Aschermittwoch abrupt Schluss ist. Dann wird vielerorts die Fasnet symbolisch begraben oder verbrannt, und die Masken verschwinden für ein Jahr in den Schränken.
Das Häs und seine Bedeutung
Ein Häs ist kein Kostüm. Das solltest du dir merken, wenn du mit Fasnetsnarren ins Gespräch kommst. Während Karnevalskostüme jedes Jahr neu gekauft oder gebastelt werden, ist ein traditionelles Häs eine Investition fürs Leben und darüber hinaus. Viele Hästräger tragen Masken und Gewänder, die schon ihre Großeltern getragen haben. Die Holzmasken werden von spezialisierten Schnitzern gefertigt, die Uniformen oft in monatelanger Handarbeit genäht und bestickt.
Jede Zunft hat ihre eigenen Figuren, und die Unterschiede sind beträchtlich. In Stockach tummeln sich die Narros mit ihren Holzmasken und bunten Gewändern, in Überlingen die Hänselejucks, und in Konstanz prägen die Blätzlebueben das Bild. Manche Figuren sind Hexen, andere stellen Tiere oder historische Gestalten dar. Die Symbolik dahinter ist oft komplex und wurzelt in lokalen Sagen und Geschichten. Häufig stecken auch handfeste historische Ereignisse dahinter, die in einer Figur verewigt wurden.
Besonders imposant sind die Schellenhäs. Hästräger schnallen sich dabei kiloschwere Glocken oder Schellen auf den Rücken, die bei jeder Bewegung einen ohrenbetäubenden Lärm erzeugen. Der Krach soll nach alter Tradition böse Geister vertreiben und den Winter in die Flucht schlagen. Praktisch bedeutet es vor allem: Nach einem Umzug hinter einem Schellenhäs hast du garantiert einen Tinnitus für den Rest des Tages.
Die Narrenzünfte – Organisatoren und Hüter der Tradition
Ohne Narrenzünfte würde es die schwäbisch-alemannische Fasnet in dieser Form nicht geben. Diese Vereine sind die Organisatoren, Bewahrer und Weiterentwickler der lokalen Fasnetskultur. An der Spitze steht jeweils ein Zunftmeister, der nicht nur organisiert, sondern auch darüber wacht, dass die Traditionen eingehalten werden. Manche Zünfte existieren seit über 100 Jahren, und ihre Mitgliedschaft wird teilweise von Generation zu Generation weitergegeben.
Die Struktur ist streng hierarchisch, und wer mitmachen will, muss sich oft erst beweisen. Der Nachwuchs, liebevoll als Narrensamen bezeichnet, wächst in die Traditionen hinein und lernt schon früh, was es bedeutet, Teil einer Zunft zu sein. Dabei geht es nicht nur um das Tragen des Häs, sondern auch um das Erlernen bestimmter Rufe, Schrittfolgen und Verhaltensweisen während der Umzüge.
Interessant ist, dass viele Zünfte untereinander gut vernetzt sind und sich gegenseitig besuchen. Bei größeren Umzügen treten oft Dutzende Zünfte aus der gesamten Region auf, was den Veranstaltungen einen besonderen Reiz verleiht. Man sieht dann an einem einzigen Tag Figuren aus ganz unterschiedlichen Traditionen und kann die Vielfalt der schwäbisch-alemannischen Fasnet hautnah erleben.
Stockacher Narrengericht – wenn eine Stadt Gericht hält
Zu den absoluten Highlights der Bodensee-Fasnet gehört das Stockacher Narrengericht. Seit 1351 wird in Stockach zur Fasnetszeit Gericht gehalten, und zwar über Personen, die sich im vergangenen Jahr vermeintlich etwas haben zuschulden kommen lassen. Die Verhandlungen sind natürlich nicht ernst gemeint, aber die Inszenierung ist beeindruckend. Prominente Politiker, Wirtschaftsbosse oder andere öffentliche Figuren müssen sich vor dem närrischen Gericht verantworten und werden für ihre Taten symbolisch bestraft.
Das Ganze ist eine Mischung aus Volkstheater, politischer Satire und Fasnetsbrauch. Die Urteile fallen drastisch aus, aber am Ende zahlen die Verurteilten meist eine Spende für einen guten Zweck und kommen mit einem blauen Auge davon. Allerdings mit einem sehr öffentlichen. Die Verhandlungen werden live übertragen und ziehen Jahr für Jahr Tausende Zuschauer an. Wer eine Karte ergattern will, muss sich früh kümmern, denn das Narrengericht ist regelmäßig ausverkauft.
Hänselejuck in Überlingen – ein Sprung durch die Geschichte
In Überlingen dreht sich zur Fasnet alles um den Hänselejuck. Diese Figur ist eng mit der Stadtgeschichte verbunden und repräsentiert einen Spottcharakter, der sich über die Überlinger selbst lustig macht. Der Name leitet sich vom schwäbischen Wort für Hans ab, und der Juck ist eine Art Narr oder Spaßvogel. Die Geschichte dahinter ist typisch für die Region: Irgendwann hat jemand einen Witz gemacht, der Witz wurde zur Tradition, und heute ist daraus eine ganze Fasnetsfigur entstanden.
Der Überlinger Narrensprung ist einer der größten und bekanntesten Umzüge der Region. Tausende Hästräger aus verschiedenen Zünften ziehen durch die Altstadt, und die Straßen sind gesäumt von Zuschauern. Was den Sprung besonders macht, ist die Mischung aus traditionellen Figuren und modernen Interpretationen. Manche Zünfte bleiben streng bei den historischen Vorlagen, andere erlauben sich künstlerische Freiheiten. Das sorgt manchmal für Diskussionen unter Puristen, macht die Sache aber auch lebendig.
Weitere Fasnetshochburgen am Bodensee
Neben Stockach und Überlingen gibt es zahlreiche weitere Orte, in denen die Fasnet mit großer Leidenschaft gefeiert wird. In Konstanz sind die Blätzlebueben eine der prägendsten Figuren. Ihre bunt bedruckten Gewänder aus Stoffflecken sollen an die Flickendecken armer Leute erinnern. Die Konstanzer Fasnet hat zudem eine lange Tradition der Narrenmusik, und in den Gassen hört man zur Fasnetszeit ständig die charakteristischen Fanfarenklänge.
Auch Rottweil, das zwar nicht direkt am Bodensee liegt, aber zur schwäbisch-alemannischen Fasnetsregion gehört, ist erwähnenswert. Die Rottweiler Fasnet gilt als eine der ältesten und traditionsreichsten überhaupt. Die dortigen Masken und Häs sind Kunstwerke für sich, und wer einmal einen Rottweiler Narrensprung gesehen hat, versteht, warum die Stadt als Hochburg gilt.
In Ravensburg wird ebenfalls kräftig gefeiert, und auch kleinere Gemeinden rund um den Bodensee haben ihre eigenen Traditionen. Manchmal lohnt es sich gerade, die weniger bekannten Veranstaltungen zu besuchen, weil dort die Atmosphäre noch ursprünglicher ist und man als Besucher leichter ins Gespräch kommt.
Narri-Narro und andere wichtige Vokabeln
Wenn du zur Fasnet an den Bodensee kommst, solltest du ein paar grundlegende Begriffe kennen. Der wichtigste Gruß lautet "Narri-Narro". Dabei ruft eine Person "Narri!" und die andere antwortet mit "Narro!". Dieser Ruf ist das Erkennungszeichen der schwäbisch-alemannischen Narren, und wer ihn beherrscht, signalisiert, dass er dazugehört. Allerdings haben viele Zünfte auch ihre eigenen spezifischen Rufe, und wenn du wirklich punkten willst, solltest du dich vorher informieren, welche Rufe in welcher Stadt üblich sind.
Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen Hästräger und Kostümträger. Ein Hästräger gehört zu einer Zunft und trägt ein traditionelles Häs. Jemand, der einfach nur ein lustiges Kostüm anzieht, ist kein Hästräger. Das mag für Außenstehende wie Haarspalterei wirken, aber für die Narren ist es ein fundamentaler Unterschied.
Der Begriff Narrensamen für Kinder ist übrigens nicht abwertend gemeint, sondern liebevoll. Die Kleinsten werden in die Traditionen eingeführt und dürfen oft schon in Kindergröße ein Häs tragen. Das sieht nicht nur niedlich aus, sondern zeigt auch, wie lebendig die Fasnetstradition ist.
Praktische Tipps für Fasnet-Besucher
Wenn du zur Fasnetszeit an den Bodensee kommst, solltest du dich warm anziehen. Die Umzüge finden oft bei eisigen Temperaturen statt, und wer stundenlang am Straßenrand steht, wird schnell kalt. Außerdem ist es ratsam, früh zu kommen, um einen guten Platz zu ergattern. Die großen Umzüge ziehen Zehntausende Zuschauer an, und beliebte Streckenabschnitte sind schnell überfüllt.
Fotografieren ist grundsätzlich erlaubt, aber du solltest die Hästräger respektvoll behandeln. Manche Figuren interagieren gerne mit dem Publikum, andere bleiben lieber in ihrer Rolle und möchten nicht gestört werden. Wenn du unsicher bist, frag einfach kurz nach.
Viele Veranstaltungen sind kostenlos, aber bei manchen Umzügen wird um Spenden gebeten. Das Geld fließt in die Erhaltung der Traditionen und die Pflege der oft teuren Häs. Wer mag, kann sich auch spontan ein einfaches Kostüm zulegen und selbst mitfeiern. In vielen Orten gibt es parallel zu den traditionellen Umzügen auch Straßenfasnet, bei der jeder willkommen ist.