Wer im Frühjahr an den See fährt, muss eigentlich eine Sonnenbrille tragen. Nicht wegen der Sonne selbst, sondern wegen des fast schon aggressiven Weiß der Blütenmeere. Millionen von Obstbäumen stehen hier Spalier, und das ist kein Zufall, den sich das Tourismusbüro ausgedacht hat. Der Bodensee funktioniert wie eine gigantische Klimaanlage mit Wärmespeicherfunktion. Im Herbst gibt das Wasser die gespeicherte Sommerwärme nur zögerlich ab, was die Nächte mild hält und den Früchten erlaubt, Zuckerwerte zu entwickeln, von denen Bauern im hohen Norden nur träumen können. Das schmeckt man. Später, wenn der Nebel im November die Ufer verschluckt, ist genau dieser Zucker der Treibstoff für eine der lebendigsten Traditionen der Region: die Veredelung von Obst zu Alkohol.
Es riecht in diesen Tagen oft süßlich-faulig in den Dörfern, eine Mischung aus Erde und Gärung. Man sieht Traktoren mit riesigen Bottichen, in denen Äpfel und Birnen wild durcheinanderkullern. Es ist eine geschäftige Zeit, aber keine hektische. Der Rhythmus wird hier vom Reifegrad bestimmt, nicht von der Stechuhr. Wenn der Boskoop fällt, muss er weg. Sofort.
Mostindien liegt nicht in Asien
Man muss vorsichtig sein mit dem Begriff „Most“. Bestellt man im restlichen Deutschland einen Süßmost, bekommt man braunen Apfelsaft. Hier am See, und ganz besonders auf der Schweizer Seite im Thurgau, ist Most eine Religion und definitiv alkoholisch. Der Thurgau trägt nicht umsonst den Spitznamen „Mostindien“. Die Legende besagt, die Form des Kantons erinnere an Indien, aber wahrscheinlicher ist, dass die schiere Dichte an Apfelbäumen den Namen prägte.
Der vergorene Apfelwein, hier „Suure Moscht“ genannt, ist das Getränk des einfachen Mannes, das es aber längst in die Hipster-Bars von Konstanz und Zürich geschafft hat. Farblich rangiert er irgendwo zwischen trübem Bernstein und hellem Gold. Geschmacklich ist er eine Herausforderung für den unbedarften Gaumen. Der erste Schluck zieht einem gerne mal die Mundwinkel zusammen. Er ist trocken, resch und hat wenig mit dem lieblichen Cider aus dem Pub zu tun, der oft mit Zucker und Kohlensäure aufgeblasen wird. Ein echter Bodensee-Most perlt kaum. Er liegt still im Glas und wartet darauf, dass du dich an ihn gewöhnst.
Viele Bauern schenken ihren Most direkt auf dem Hof aus. Man sitzt auf einfachen Holzbänken, oft unter den Bäumen, an denen das Rohmaterial noch vor kurzem hing. Dazu gibt es ein Vesperbrett, auf dem Wurst und Käse um den Platz streiten. Das ist keine Haute Cuisine, das ist Überlebensgrundlage. In den Besenwirtschaften – oder „Rädle“, wie sie auf der deutschen Seite heißen – erkennt man am ausgehängten Besen, ob geöffnet ist. Es ist laut, es ist eng, und man kommt ins Gespräch, ob man will oder nicht. Spätestens nach dem zweiten Viertele Most versteht man auch den breiten Dialekt des Sitznachbarn erstaunlich gut. Ein gefährliches Getränk, denn es trinkt sich wie Wasser, wirkt aber nach einiger Zeit in den Beinen nach.
Die hohe Kunst am Kupferkessel
Doch der Most ist oft nur die Vorstufe. Wenn die Temperaturen fallen, beginnen die Brennblasen zu glühen. Die Dichte an Brennereien rund um den See ist weltweit fast einzigartig. Allein in Oberteuringen oder Kressbronn scheint fast jeder zweite Hof ein Brennrecht zu besitzen. Das hat historische Gründe, oft zurückgehend auf alte Rechte, die an Grund und Boden gebunden sind – das sogenannte Abfindungsbrennen ist hier weit verbreitet. Anders als in der Industrie, wo Computer die Temperatur regeln, verlässt sich der Brenner am See auf seine Nase und Erfahrung.
Es ist faszinierend, einem dieser Alchemisten über die Schulter zu schauen. In den kleinen Brenkhäuschen ist es warm, es riecht intensiv nach Alkohol und gekochter Frucht. Der Brenner starrt oft minutenlang auf das kleine Röhrchen, aus dem das Destillat tröpfelt. Hier entscheidet sich alles. Der Vorlauf, der giftiges Methanol enthalten kann und nach Klebstoff riecht, muss weg. Der Nachlauf, der muffig schmeckt, ebenfalls. Nur das Herzstück, der Mittellauf, darf in die Flasche. Den exakten Moment der Trennung zu erwischen, ist Handwerkssache. Ein Fehler, und die Arbeit eines ganzen Jahres landet im Ausguss oder im Scheibenwischerwasser.
Besonders stolz ist man hier auf die alten Obstsorten. Während der Supermarkt nur makellose Äpfel will, sucht der Brenner das Charaktervolle. Ein Apfel, der zum Reinbeißen zu sauer oder zu gerbstoffhaltig ist, kann als Brand eine Wucht sein. Sorten wie der „Rote Boskoop“ oder die „Wahlsche Schnapsbirne“ sind Stars in der Flasche, auch wenn sie am Baum eher unscheinbar wirken. Es geht hier nicht um Schönheit, es geht um Aroma.
Die Diva unter den Früchten: Williams und Kirsch
Der unangefochtene König der Bodensee-Brennereien ist der Williams-Christ-Brand. Die Birne ist eine Diva. Sie muss am Baum voll ausreifen, darf aber nicht mehlig werden. Wenn sie gelb ist, muss sie innerhalb von Tagen verarbeitet werden. Ein guter Williams riecht so intensiv, dass man meint, man würde in eine frische Birne beißen. Wenn er im Glas nach nichts riecht oder scharf in der Nase sticht, lass ihn stehen. Das ist dann Sprit, kein Genuss.
Noch spezifischer ist das „Bodenseekirschwasser“. Die schwarzen, kleinen Brennkirschen wachsen an gigantischen Hochstammbäumen, die das Landschaftsbild prägen. Die Ernte ist eine Knochenarbeit. Wer schon mal auf einer schwankenden Leiter in fünf Metern Höhe stand, weiß, warum der Schnaps seinen Preis hat. Das Kirschwasser vom See hat eine feine Mandelnote, die vom Kern kommt (der Stein wird oft anteilig mitvergoren), aber sie darf nicht dominieren. In der Schweizshochburg Zug oder eben im Thurgau wird Kirsch oft in den Fondue-Topf gekippt, aber eigentlich ist das Verschwendung. Ein gereifter Kirschbrand gehört pur getrunken, handwarm, niemals eisgekühlt. Die Kälte tötet das Aroma, das die Bäume den ganzen Sommer über gesammelt haben.
Gin, Whisky und der Blick über den Tellerrand
Natürlich bleibt die Zeit auch am „Schwäbischen Meer“ nicht stehen. Die junge Generation der Brenner hat keine Lust mehr, nur das zu machen, was der Großvater schon gemacht hat. Plötzlich tauchen Bodensee-Gins auf, aromatisiert mit Kräutern von der Insel Reichenau oder Äpfeln aus dem Hinterland. Auch Whisky wird gebrannt – das Getreide wächst ja direkt nebenan. Das Wasser des Sees ist weich genug dafür. Manche dieser Experimente sind gewöhnungsbedürftig, andere spielen auf Weltniveau. Es ist dieser Mix aus knorriger Tradition und dem Willen, es den „Großen“ zu zeigen, der die Szene so spannend macht.
Ein Besuch in einer der Schaubrennereien lohnt sich immer. Orte wie Wasserburg oder Nonnenhorn sind quasi begehbare Schnapsschränke. Oft steht die Tür offen, und man darf probieren. Ein kleiner Tipp am Rande: Spucken ist bei Verkostungen am Bodensee eher unüblich, anders als beim Wein. Man trinkt das Zeug. Deshalb sollte man tunlichst vorher eine solide Grundlage schaffen – vielleicht mit einem Zwiebelkuchen oder Käsespätzle. Nüchtern verlässt man diese Orte selten, aber man geht mit dem Gefühl, ein Stück Kultur verstanden zu haben. Es ist die Essenz der Landschaft, konzentriert auf 40 Volumenprozent.
Ein Mitbringsel mit Charakter
Wer etwas mit nach Hause nehmen will, sollte die Finger von den Touristenflaschen mit den bunten Etiketten in den Souvenirläden lassen. Kauf dort, wo der Name des Brenners auf der Tür steht. Such nach dem „Hölzler“ (ein Brand aus wilden Pflaumen) oder einem sortenreinen Apfelbrand aus dem Eichenfass. Das kostet vielleicht zwanzig Euro mehr als im Supermarkt, aber wenn du die Flasche an einem kalten Winterabend zu Hause öffnest, hast du den ganzen Sommer des Bodensees wieder auf der Zunge. Und das ist jeden Cent wert.