Der Bodensee ist ein Riese unter den europäischen Seen. Mit seinen 540 Quadratkilometern Fläche und einer maximalen Tiefe von 251 Metern gehört er zu den größten Binnengewässern des Kontinents. 48 Kubikkilometer Wasser sind hier gespeichert – eine gigantische Menge, die normalerweise selbst in strengen Wintern nicht komplett gefriert. Doch manchmal, sehr selten, passiert etwas Außergewöhnliches: Der gesamte See verwandelt sich in eine durchgehende Eisdecke, tragfähig genug für Menschen, Autos und sogar Flugzeuge. Dieses Ereignis nennt man im bodenseealemannischen Dialekt "Seegfrörne", auf Schweizerdeutsch "Seegfrörni".
Die Voraussetzungen dafür sind ziemlich komplex. Ein früh beginnender Winter, aus östlichen Richtungen zuströmende Kaltluft, schwache Luftbewegungen, ein niedriger Wasserstand, wenig Sonnenschein und Lufttemperaturen, die von November bis Februar mehrere Grad unter dem langjährigen Mittelwert liegen – all diese Faktoren müssen zusammenkommen. Schon der Sommer davor sollte kühler sein als gewöhnlich, damit der See weniger Wärme speichert. Wenn dann im Herbst die Ostwinde eisige Luft bringen und der Winter mit arktischen Temperaturen fortsetzt, kann das Jahrhundertereignis eintreten.
Interessant ist der Ablauf des Zufrierens. Das Eis beginnt nicht überall gleichzeitig zu wachsen. Die Eisbildung beginnt im Untersee, dem flacheren Teil zwischen Konstanz und Stein am Rhein. Von dort breitet sich die Eisdecke auf den Überlinger See aus, bis zuletzt auch der tiefe Obersee zwischen Bregenz und Konstanz zufriert. An manchen Stellen bleibt das Wasser besonders lang offen, etwa unter der Rheinbrücke von Konstanz oder zwischen Friedrichshafen und Romanshorn, wo die Fähren normalerweise verkehren.
Die letzte Seegfrörne von 1963
Das Jahr 1963 begann mit einer Kältewelle, die man so schnell nicht vergessen würde. Der Sommer 1962 war relativ kühl gewesen, und bereits im November 1962 begannen die ersten kurzen Frostphasen. Was folgte, war ein Winter, der Europa, Nordamerika und Ostasien gleichzeitig fest im Griff hatte. Am Bodensee herrschten Bedingungen, die ideal waren für das große Eis.
Im November 1962 gab es lang anhaltenden Frost und sehr geringe Luftbewegungen, Mitte Januar 1963 waren die obersten 50 Meter des Obersees deutlich kälter als in anderen Jahren. Die Temperaturen sanken dramatisch. Bereits zum Jahreswechsel sank die Quecksilbersäule auf fast minus 20 Grad, in manchen Nächten wurden sogar minus 22 Grad gemessen. Und das Entscheidende: Die Kälte hielt an. Vier Wochen lang blieb es durchgehend frostig, die Tageshöchstwerte kletterten kaum über den Gefrierpunkt.
Schon am 27. Dezember 1962 wurde am Untersee ein erster Eisweg freigegeben – zwischen Radolfzell und Markelfingen. Was damals noch niemand ahnte: Es war der Auftakt zur ersten kompletten Seegfrörne seit 1880, also seit 83 Jahren. Die Menschen am Untersee reagierten zunächst mit Freude und Neugier. Kaum waren die Eisflächen von den Behörden freigegeben, strömten Tausende auf den See. Am 18. Januar wurde ein Eisweg von der Insel Reichenau nach Mannenbach in der Schweiz eröffnet – eine grenzüberschreitende Völkerwanderung ohne Zollschranken begann.
Anfang Februar war es dann soweit: Der gesamte Bodensee lag unter einer geschlossenen Eisdecke. Im Untersee maß das Eis bis zu einem Meter Dicke, im Überlinger See bis zu 30 Zentimeter und im Obersee bis zu 20 Zentimeter. Vom 7. Februar bis zum 10. März 1963 konnte man den See offiziell zu Fuß, mit dem Fahrrad, auf Schlittschuhen, zu Pferd und sogar mit dem Auto überqueren. Manche Gemeinden stellten sogar Urkunden für die Eiswanderer aus.
Das Leben auf dem Eis
Was sich in diesen Wochen auf dem zugefrorenen See abspielte, muss man sich vorstellen wie ein riesiges Volksfest. Der See, der normalerweise trennt, wurde plötzlich zur verbindenden Brücke zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Menschen zogen in Scharen von einem Ufer zum anderen, manche um Verwandte zu besuchen, andere aus purer Abenteuerlust.
Überall entstanden improvisierte Stände mit Bratwurst, Glühwein und Tee. Schlittschuhläufer drehten ihre Runden, Motorradfahrer testeten ihre Geschicklichkeit auf dem spiegelglatten Eis. Es gab selbstgebaute Eissegler und Kufen-Fahrräder. Anfang März konnten sogar Segelflieger und Sportflugzeuge auf dem zugefrorenen Bodensee landen, ein Lindauer Fotograf transportierte mit seinem Sportflugzeug Eisflugpost von Lindau nach Konstanz. Die ganze Region war im Seegfrörne-Fieber.
Aber das Eis war nicht ungefährlich. Unter der scheinbar festen Oberfläche lauerten Risiken. Große Risse mit offenem Wasser, sogenannte Wunen, konnten entlang der Bruchstellen kilometerlang verlaufen. Wenn die Temperaturen stiegen, etwa beim Wechsel von Nachtkälte zu Tageswärme, dehnte sich das Eis aus, Eisplatten und Eiswälle türmten sich auf. Mitten im See gab es kreisrunde Löcher von etwa einem Meter Durchmesser, wo Quellen vom Seegrund hochkamen oder Gasblasen aufstiegen.
Ein Zeitzeuge beschrieb seine Überquerung von Langenargen zur Schweiz so: Das Eis begann plötzlich zu beben, darunter rauschte und gluckste das Wasser, dann kam ein gewaltiger Donnerschlag, als würden Düsenjäger vorbeifegen. Man dachte, das letzte Stündlein hätte geschlagen. Solche Momente zeigten, dass die Seegfrörne nicht nur ein romantisches Spektakel war, sondern auch ihre Schattenseiten hatte. Insgesamt forderte die Seegfrörne vier Todesopfer. Zwei Schüler aus Friedrichshafen, 13 und 15 Jahre alt, wurden auf einer Eisscholle abgetrieben und tot vor Güttingen gefunden.
Die Eisprozession von Hagnau nach Münsterlingen
Das spektakulärste Ereignis der Seegfrörne 1963 fand am 12. Februar statt: die legendäre Eisprozession von Hagnau nach Münsterlingen. Seit 1573 wird bei jeder Seegfrörne, soweit von den politischen Gegebenheiten und der Tragfähigkeit des Eises möglich, die Büste des Heiligen Johannes in einer feierlichen Eisprozession wechselseitig vom schweizerischen Kloster Münsterlingen ins deutsche Hagnau über das Eis getragen. Johannes gilt als Weinheiliger und hat seinen Festtag am 27. Dezember.
An diesem Februartag versammelten sich etwa 2500 Menschen auf dem Eis. Die Ufer waren schwarz vor Menschen, Kameras klickten wie Maschinengewehre. An der Spitze der Prozession ritt Georg Stärr aus Friedrichshafen-Fischbach auf seinem Haflinger "Monika". Stärr hatte als Schuljunge einmal versprochen: "Wenn der See zufriert, dann reite ich über den Bodensee" – inspiriert von Gustav Schwabs berühmtem Gedicht "Der Reiter und der Bodensee". 1963 machte er sein Versprechen wahr und ritt die acht Kilometer lange Strecke sogar zweimal.
Die hölzerne Büste des Johannes wurde von Schweizer Männern aus Münsterlingen getragen. Guido Hess und Walter Speck hatten die Aufgabe, das geschnitzte Bildnis "heimzuholen", wie sie sagten. Auf dem Postament der Büste, die auf den Beginn des 16. Jahrhunderts datiert wird, ist die Geschichte der Eisprozessionen dokumentiert. Allerdings gibt es Zweifel an der Überlieferung: Ein Schweizer Pfarrer fand durch Quellenstudium heraus, dass die Geschichte vom regelmäßigen Uferwechsel bei jeder Seegfrörne möglicherweise eine spätere Legende ist und nicht auf historischen Fakten beruht.
Trotzdem bleibt die Eisprozession 1963 ein unvergessliches Ereignis. Die Johannesbüste steht seither in Münsterlingen und wartet auf die nächste Seegfrörne, bei der sie zurück nach Hagnau gebracht werden soll. Ob das je wieder passieren wird? Die Frage beschäftigt viele Menschen am Bodensee.
Historische Seegfrörnen
Die Seegfrörne von 1963 war keineswegs die erste ihrer Art. Eine Seegfrörne wird derzeit erstmals für das Jahr 875 angenommen. Das Problem bei den frühen Ereignissen: Es gibt keine Dokumente von Zeitgenossen. Die ersten bekannten Seegfrörnen muss man lediglich als Zahlen betrachten – 875, 895, 1074, 1076, 1108, 1217, 1227. Erst ab 1830 existieren ausführliche und zeitnahe Dokumentationen.
Manche Seegfrörnen hatten auch praktische Auswirkungen. Im Jahr 1573 maßen Stadtammann Hälle von Bregenz und ein Ratsherr das Schwäbische Meer an verschiedenen Orten und fanden es zwischen Rorschach und Langenargen 7141 Klafter breit – so nutzte man das Eis, um die Größe des Sees zu vermessen. 1814 gab es eine teilweise Seegfrörne, über die sich die Menschen allerdings nicht freuten: Es herrschte Krieg gegen Napoleon, und man befürchtete Versorgungsprobleme für die deutschen Heere. Auf Anordnung des Kreisdirektoriums Konstanz rückten 3000 Mann mit Brechäxten, Beilen und Sägen an, um einen Kanal in den Untersee zu hacken – innerhalb von fünf Tagen hatten sie es geschafft.
Die Seegfrörne von 1880 lockte ebenfalls Tausende Menschen an. Am 2. Februar stellten Bregenzer Bürger ein Eisfest auf die Beine, zu dem 10.000 Menschen kamen. Ein Zeitzeuge schrieb damals von einer kleinen Völkerwanderung zwischen Bregenz und Lindau. Noch in diesem Jahr kamen mehr Gäste an den See als selbst im Sommer üblich.
Wird es je wieder eine Seegfrörne geben?
Die Frage, die sich alle stellen: Kommt das noch mal? Die Antwort ist ernüchternd. Durch den Klimawandel ist ein Trend zu milderen Wintern in Deutschland sichtbar. Die Wassertemperatur des Bodensees ist seit Mitte der 1960er Jahre um 1,2 Grad angestiegen – das klingt nach wenig, macht aber einen enormen Unterschied. Früher galt die Bauernregel, dass jede Generation einmal über den gefrorenen Bodensee gehen kann. Diese Regel hat heute keine Gültigkeit mehr.
Wissenschaftler messen regelmäßig die Wassertemperatur am zentralen Messpunkt zwischen Fischbach und Uttwil. Einmal im Monat wird von der Oberfläche bis zu 254 Metern Tiefe gemessen. Der Trend ist eindeutig: In einer Wassertiefe von 50 Zentimetern nimmt die Temperatur pro Jahr um 0,03 Grad zu – hochgerechnet über 40 Jahre ergibt das 1,2 Grad Celsius. Hinzu kommt, dass auch lang dauernder Frost und sehr geringe Luftbewegungen aufgrund der Klimaerwärmung zunehmend unwahrscheinlich werden.
Trotzdem: Ganz ausschließen lässt sich eine weitere Seegfrörne nicht. Zuletzt waren 2017 und 2002 Teile des Sees so zugefroren, dass man sich darauf bewegen konnte. Einzelne Jahre können vom allgemeinen Trend abweichen, sehr kalte Wintermonate sind nicht komplett unmöglich. Eine kleine Chance bleibt also bestehen – aber die Wahrscheinlichkeit ist deutlich geringer als früher.
Erinnerungen bewahren
Die Seegfrörne 1963 hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Bodenseeregion eingebrannt. Viele Menschen, die damals dabei waren, erinnern sich bis heute lebhaft an diese besondere Zeit. Sie erzählen von Ausflügen mit der ganzen Familie aufs Eis, von den knackenden und krachenden Geräuschen unter ihren Füßen, von der Kälte, die trotz Wollpulli und Handschuhen durch Mark und Bein ging.
In Hagnau gibt es ein Museum, in dem die Entstehungsgeschichte der Eisprozession und die Überquerungen zwischen Münsterlingen und Hagnau dokumentiert sind. Am Bodenseeufer von Fischbach erinnert ein Aluminiumschild an Georg Stärr, den Reiter über den Bodensee. In der Ortsmitte von Hagnau steht die Schneeballensäule, ein Denkmal von Gerold Jäggle, das die Eisprozession plastisch darstellt. Heinrich Hansjakob beschrieb die Seegfrörne von 1830 in seinem Buch "Schneeballen vom Bodensee".
Die Bilder von 1963 sind beeindruckend: Scharen von Menschen in dicken Mäntern auf dem weißen Eis, Bratwurstbuden mitten auf dem See, Flugzeuge, die auf der Eisfläche landen, Eisberge, die sich am Ende des Jahrhundertereignisses durch die Föhnstürme auftürmten. Diese Fotografien und Filme sind heute wichtige Zeugnisse eines Naturphänomens, das vermutlich nie wieder in dieser Form auftreten wird.