Das Stift St. Gallen blickt auf eine Geschichte zurück, die bis ins frühe 7. Jahrhundert reicht. Damals zog sich der irische Wandermönch Gallus in die Wildnis der heutigen Ostschweiz zurück – angeblich nach einem Sturz, bei dem er sich verletzte. Aus seiner Einsiedelei entstand eine Klostergemeinschaft, die im Laufe der Jahrhunderte zu einem der bedeutendsten Kulturzentren Europas heranwuchs. Schon im 9. Jahrhundert galt die Klosterschule als herausragend, Gelehrte kamen von weit her.
Heute ist vom ursprünglichen Kloster wenig erhalten. Was du siehst, stammt größtenteils aus dem 18. Jahrhundert – eine Zeit, in der das Benediktinerkloster nochmal richtig Geld in die Hand nahm. Die barocke Kathedrale und die angrenzenden Stiftsgebäude wurden zwischen 1755 und 1767 errichtet, geplant von verschiedenen Baumeistern, darunter Peter Thumb. Das Ergebnis? Ein architektonisches Ensemble, das 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde. Nicht schlecht für einen Ort, der mit einer Holzhütte im Wald begann.
Die Bibliothek – Rokoko trifft auf Gelehrsamkeit
Betritt man die Stiftsbibliothek, fällt der Blick sofort nach oben. Der Bibliothekssaal ist ein einziger visueller Schlag: Deckenfresken, vergoldete Schnitzereien, Intarsienböden aus verschiedenen Hölzern. Die Raumwirkung ist gewaltig, obwohl der Saal "nur" etwa 60 Meter lang ist. Gebaut wurde er in den Jahren 1758 bis 1767 nach Plänen von Peter Thumb, die Fresken stammen von Joseph Wannenmacher. Sie zeigen die ersten vier ökumenischen Konzilien – ziemlich theologisch, aber malerisch großartig umgesetzt.
Weniger offensichtlich, aber mindestens genauso beeindruckend: die Sammlung selbst. Hier lagern rund 170.000 Bände, darunter etwa 2.100 Handschriften, manche über tausend Jahre alt. Einige dieser Manuskripte entstanden im Skriptorium des Klosters selbst, wo Mönche jahrhundertelang Texte abschrieben, illuminierten und bewahrten. Zu den Highlights zählt der "Codex Abrogans", ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch aus dem 8. Jahrhundert und damit eines der ältesten erhaltenen Bücher in deutscher Sprache. Oder der sogenannte St. Galler Klosterplan aus dem 9. Jahrhundert – eine idealisierte Darstellung einer Klosteranlage, die es so nie gab, aber als architekturgeschichtliches Dokument unschätzbar ist.
Die Bücher stehen nicht einfach herum. Sie sind Teil einer lebendigen Forschungseinrichtung. Wissenschaftler aus aller Welt kommen hierher, um in den Archiven zu arbeiten. Manche Bände sind so wertvoll, dass sie in klimatisierten Tresoren lagern.
Filzpantoffeln und Staunen – der Besuch
Bevor du den Bibliothekssaal betrittst, musst du Überschuhe aus Filz überziehen. Das hat nichts mit Spaß an Verkleidungen zu tun, sondern schützt den historischen Parkettboden. Man rutscht dann ein bisschen durch den Raum, was dem Ganzen eine fast meditative Note verleiht. Fotografieren ist erlaubt – allerdings nur ohne Blitz, versteht sich. In den sozialen Medien tummeln sich unzählige Aufnahmen des Saals, und ja, er ist tatsächlich so fotogen, wie es scheint.
Die Dauerausstellung gibt Einblicke in die Geschichte des Klosters und die Bedeutung der Schreibkunst. In Vitrinen liegen aufgeschlagene Handschriften, Miniaturen, Initialen in leuchtenden Farben. Manches wirkt erstaunlich modern – die Gestaltung mittelalterlicher Manuskripte war oft experimenteller, als man annehmen würde. In einem Nebenraum wird der Klosterplan präsentiert, allerdings als Faksimile. Das Original ist zu empfindlich für Dauerlicht.
Der Eintritt kostet derzeit 18 Schweizer Franken für Erwachsene, ermäßigt 12 Franken. Kinder bis 16 Jahre zahlen nichts. Öffnungszeiten variieren je nach Saison, aber in der Regel ist die Bibliothek von April bis Oktober täglich geöffnet, im Winter an weniger Tagen. Ein Besuch dauert im Schnitt 45 Minuten bis eine Stunde, kann aber auch länger werden, wenn man sich in Details verliert.
Rundherum: Stiftskirche und Stiftsbezirk
Die Kathedrale direkt neben der Bibliothek solltest du dir nicht entgehen lassen. Der Innenraum ist ein Fest des Spätbarocks: helle Pastelltöne, prachtvolle Stuckaturen, Deckenmalereien von Josef Wannenmacher. Besonders sehenswert ist die Rotunde unter der Kuppel – hier kommt das Licht von oben herein, was eine fast theatralische Wirkung erzeugt. Die Orgel stammt aus dem 18. Jahrhundert und klingt nach wie vor beeindruckend, falls gerade ein Konzert stattfindet.
Der gesamte Stiftsbezirk steht unter Denkmalschutz. Rund um Kathedrale und Bibliothek reihen sich weitere historische Gebäude: die ehemalige Residenz des Fürstabts, heute Sitz der kantonalen Verwaltung, das Lapidarium mit römischen Steindenkmälern, verschiedene Höfe und Gassen. Ein Spaziergang durch das Viertel lohnt sich – man fühlt sich in eine andere Epoche versetzt, obwohl ringsum die moderne Stadt pulsiert.
Praktisches für den Besuch
St. Gallen ist gut erreichbar. Mit dem Zug kommst du bequem aus Zürich (etwa eine Stunde Fahrt), Konstanz oder anderen Bodensee-Städten. Der Bahnhof liegt zentral, von dort sind es nur zehn Minuten zu Fuß bis zum Stiftsbezirk. Mit dem Auto ist die Anreise etwas kniffliger – Parkhäuser gibt es mehrere, aber die Altstadt selbst ist weitgehend autofrei. Wer am Bodensee Urlaub macht, kann St. Gallen als Tagesausflug einplanen. Die Distanz von Konstanz beträgt etwa 40 Kilometer.
Im Sommer kann es voll werden, besonders zur Mittagszeit, wenn Reisegruppen durchgeschleust werden. Wer es ruhiger mag, kommt am besten morgens gleich nach Öffnung oder am späteren Nachmittag. Die Bibliothek bietet auch Führungen an – teilweise auf Englisch oder anderen Sprachen, was für internationale Gäste praktisch ist. Infos dazu findest du auf der offiziellen Website.
In der Nähe gibt es ein kleines Café im Museumshof, wo du nach dem Besuch einen Kaffee trinken kannst. Die Preise sind schweizerisch, also nicht gerade ein Schnäppchen, aber die Lage ist angenehm. In der Altstadt rund um den Stiftsbezirck findest du zahlreiche weitere Restaurants und Cafés – von Tradition bis modern, von Fondue bis asiatisch. St. Gallen hat kulinarisch mehr zu bieten, als man auf den ersten Blick denkt.
Warum sich der Besuch lohnt – auch wenn du keine Büchernärrin bist
Klar, die Stiftsbibliothek richtet sich an Kulturinteressierte. Aber man muss kein Historiker oder Literaturwissenschaftler sein, um hier auf seine Kosten zu kommen. Der Saal allein ist ein Erlebnis – diese Kombination aus Architektur, Kunst und Handwerk gibt es selten. Und dann ist da noch das Gefühl, an einem Ort zu stehen, der seit über einem Jahrtausend Wissen sammelt und bewahrt. Das hat etwas Berührendes.
Wer sich für Buchkunst interessiert, wird ohnehin begeistert sein. Die Details in den Handschriften sind atemberaubend: filigrane Initialen, Gold auf Pergament, Miniaturen, die in tagelanger Arbeit entstanden. Manche Mönche verbrachten Jahre damit, ein einziges Buch zu kopieren. Heutzutage, wo wir Informationen in Sekundenschnelle googeln, wirkt das fast unvorstellbar.
Auch die Geschichte des Klosters selbst ist spannend. Über Jahrhunderte hinweg war es nicht nur ein religiöses, sondern auch ein wirtschaftliches und politisches Machtzentrum. Die Fürstäbte regierten über weite Gebiete, schlossen Verträge, führten Kriege. 1805 wurde das Kloster im Zuge der Säkularisation aufgehoben, die Gebäude gingen an den neu gegründeten Kanton St. Gallen. Dass die Bibliothek erhalten blieb und weitergeführt wurde, ist ein Glücksfall – an vielen anderen Orten wurden klösterliche Sammlungen zerstreut oder verkauft.
Für Familien mit Kindern
Kleine Kinder haben es in der Bibliothek nicht leicht – der Saal ist ruhig, die Atmosphäre ehrfürchtig, Anfassen verboten. Aber ab einem gewissen Alter (sagen wir, ab acht oder neun Jahren) können Kinder durchaus fasziniert sein. Vor allem die Filzpantoffeln kommen meistens gut an, und die bunt verzierten Bücher in den Vitrinen wecken oft Neugier. Es gibt auch spezielle Familienführungen, bei denen kindgerecht erklärt wird, wie Mönche früher lebten und arbeiteten.
In der Umgebung finden sich weitere Attraktionen für Familien: das Naturmuseum, der Wildpark Peter und Paul auf dem Hügel über der Stadt (mit Blick über St. Gallen und bis zum Bodensee), oder einfach die verkehrsberuhigte Altstadt zum Herumschlendern.