Thurgau & Ostschweiz

St. Gallens Bratwurst-Mythos: Die besten Adressen (und die Senf-Kontroverse!)

In St. Gallen ist die Wurst Religion, Senf eine Todsünde und das dazu gereichte Bürli fast so wichtig wie das Fleisch selbst. Wir zeigen dir, wo das weiße Gold am besten knackt und warum du die gelbe Tube besser zu Hause lässt.

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Zwischenablage

Die St. Galler Kalbsbratwurst ist eine Institution. Sie ist das unangefochtene Wahrzeichen der Ostschweiz, noch vor der Stiftsbibliothek. Und sie ist weiß. Fast schon porzellanartig schimmert sie, bevor sie auf den Grill kommt. Das liegt an der Milch.

Tatsächlich ist Milch eine der entscheidenden Zutaten, die der Wurst ihre charakteristische Farbe und die fast fluffige Konsistenz verleiht. Ein Metzger hat mir mal verraten, dass die Balance zwischen Fleisch und Milch das eigentliche Geheimnis ist – zu viel Milch und die Wurst wird matschig, zu wenig und sie verliert ihren berühmten Biss. Gesetzlich geregelt ist das alles natürlich auch. Wir sind schließlich in der Schweiz. Das IGP-Siegel (Indication Géographique Protégée) sorgt dafür, dass nicht jeder x-beliebige Fleischwolf behaupten darf, eine echte St. Galler zu produzieren. Das Kalbfleisch muss überwiegen, der Speckanteil sorgt für den Geschmack, und die Gewürzmischung ist in den meisten Metzgereien ein Geheimnis, das besser gehütet wird als so manche Banknummer in Zürich. Zitrone ist oft dabei, Kardamom manchmal, Macis fast immer.

Die "OLMA-Bratwurst" ist dabei übrigens oft ein Synonym für die schwerere Variante. Während die normale Kalbsbratwurst oft um die 110 bis 120 Gramm wiegt, bringt der OLMA-Prachtkerl satte 160 Gramm auf die Waage. Benannt nach der Ostschweizer Land- und Milchwirtschaftsausstellung, die jeden Herbst die Stadt in einen Ausnahmezustand versetzt, ist diese Wurst eigentlich ein Messergebnis der puren Völlerei. Aber man gönnt sich ja sonst nichts.

Die Senf-Frage: Ein kulturelles Minenfeld

Kommen wir zum heiklen Teil. Dem Elefanten im Raum. Dem Senf. Wer in Berlin eine Currywurst bestellt, erwartet Sauce. Wer in München eine Weißwurst isst, braucht den süßen Händlmaier. Wer in St. Gallen eine Bratwurst bestellt und nach Senf fragt, begeht sozialen Selbstmord. Das klingt jetzt vielleicht dramatisch, aber die Einheimischen verstehen da wirklich keinen Spaß. Es gilt als Affront gegen den Metzger.

Die Logik dahinter ist eigentlich bestechend simpel: Die Wurst ist so fein abgeschmeckt, das Brät so delikat gewürzt, dass jeder Klecks scharfer Senf diese Nuancen übertünchen würde. Es ist, als würde man einen teuren Bordeaux mit Cola mischen. Ein puristischer Ansatz, sicher. Aber wenn du siehst, wie der Metzger hinter der Theke die Augenbraue hochzieht, wenn ein unwissender Tourist zur gelben Tube greift, weißt du, dass Tradition hier mehr wiegt als der Spruch "Der Kunde ist König". Der Kunde ist hier eher Gast, und der Gast hat sich anzupassen. Ich habe es einmal gewagt, nur um die Reaktion zu testen – das Schweigen in der Schlange hinter mir war lauter als das Brutzeln auf dem Grill. Also: Iss sie "bloß". Ohne alles. Vertrau dem Metzger.

Der unverzichtbare Begleiter: Das Bürli

Eine Wurst kommt selten allein. In St. Gallen ist der unzertrennliche Partner das "Bürli". Kein normales Brötchen, keine Semmel, kein Wecken. Das St. Galler Bürli ist eine Wissenschaft für sich. Es handelt sich um ein Doppelbrötchen, zwei aneinandergebackene Kugeln, die man auseinanderbricht. Die Kruste muss rissig sein, dunkelbraun, fast schon ein wenig verbrannt wirken. "Rösch" nennt man das hier. Wenn es beim Reinbeißen nicht kracht und splittert, ist es kein gutes Bürli.

Innen ist es feucht, großporig und hat einen leicht säuerlichen Geschmack, der vom langen Gehen des Teigs herrührt. Diese Kombination aus dem fetthaltigen, weichen Brät der Wurst und dem widerständigen, knusprigen Brot ist haptisch ein Erlebnis. Man braucht kein Besteck. Man bekommt die Wurst in einem Stück Papier auf die Hand, dazu das Bürli, und dann beißt man abwechselnd ab. Links Wurst, rechts Brot. Das ist der Rhythmus der Stadt. Wer mit Messer und Gabel auf einem Pappteller hantiert, outet sich sofort als Fremdkörper. Die Handhabung erfordert etwas Übung, besonders wenn die Wurst noch sehr heiß ist und das Fett droht, auf die Schuhe zu tropfen. Aber das Risiko gehört dazu.

Die besten Adressen: Wo die Einheimischen Schlange stehen

Es gibt unzählige Orte, um eine Wurst zu kaufen, aber wie so oft im Leben gibt es gute und es gibt legendäre Orte. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen, oder besser gesagt: das Handwerk von der Industrieware. Man sollte sich Zeit nehmen und vielleicht sogar zwei verschiedene probieren, um die feinen Unterschiede in der Würzung herauszuschmecken.

Metzgerei Schmid: Der Platzhirsch am Bahnhof

Wer mit dem Zug ankommt, stolpert fast zwangsläufig über die Metzgerei Schmid. Der Imbissstand liegt strategisch günstig und ist fast immer belagert. Die "Schmid-Wurst" gilt vielen als der Goldstandard. Sie ist extrem saftig, die Haut ist dünn, aber knackig, und die Milchnote ist hier besonders ausgeprägt. Was mir hier gefällt: Trotz des enormen Durchlaufs an Pendlern und Touristen wird jede Wurst mit einer gewissen Sorgfalt gegrillt. Keine Hektik am Rost, obwohl die Schlange lang ist. Man bekommt sie direkt in die Hand gedrückt, das Bürli dazu, und steht dann da, mitten im Trubel, und genießt. Ein ehrlicher Start in den Stadtbesuch.

Metzgerei Gemperli: Im Schatten des Klosters

Weiter drinnen in der Altstadt, nur einen Steinwurf vom Klosterbezirk entfernt, residiert Gemperli. Das "Gemperli" ist Kult. Hier treffen sich Banker im Anzug, Studenten der renommierten Universität und Handwerker zum "Znüni" (dem zweiten Frühstück) oder zum Mittagessen. Die Atmosphäre ist uriger, fast ein wenig intimer als am Bahnhof. Die Wurst hier hat, so bilde ich mir zumindest ein, eine etwas kräftigere Muskatnote. Das Besondere ist die Stehbar im ersten Stock – wer Glück hat, ergattert einen Platz am Fenster und kann das Treiben in der Gasse beobachten, während er kaut. Das Personal ist hier oft herrlich direkt, typisch ostschweizerisch eben. Nicht unfreundlich, aber wortkarg und effizient.

Rietmann: Der Traditionsbäcker mit Wurstkompetenz

Eigentlich eine Bäckerei, aber in St. Gallen verschwimmen die Grenzen. Rietmann am Marktplatz ist berühmt für seine Bürli – vielleicht die besten der Stadt, wenn man es besonders dunkel und kross mag. Und weil ein gutes Bürli nach einer guten Wurst verlangt, bekommt man hier beides in Perfektion. Es ist der ideale Ort für alle, die das Brot genauso wichtig finden wie das Fleisch. Die Wurst ist hier oft ein wenig stärker gebräunt, was dem Geschmack noch mal eine andere Röstnote gibt.

Saisonale Ekstase: Die OLMA-Zeit

Wenn im Oktober die OLMA ihre Tore öffnet, dreht die Stadt durch. Dann wird die Bratwurst nicht nur gegessen, sie wird zelebriert. Über 300.000 Besucher strömen in die Messehallen, und der Wurstkonsum steigt in astronomische Höhen. Es ist laut, es ist eng, es riecht nach Landwirtschaft und Grillfett. Hier, im Getümmel der Hallen oder an den Ständen davor, schmeckt die Wurst irgendwie anders. Vielleicht ist es die kollektive Euphorie, vielleicht das Bier, das zwangsläufig dazu getrunken wird (St. Galler Schützengarten, versteht sich). Wer das "echte" St. Gallen verstehen will, muss einmal im Herbst hier gewesen sein, wenn die Wurstkönigin gekrönt wird (im übertragenen Sinne) und man vor lauter Menschen kaum umfallen kann.

Aber keine Sorge, wenn du im Frühling oder Sommer kommst. Die Qualität bei Schmid, Gemperli und Co. ist das ganze Jahr über konstant hoch. Im Sommer hat es sogar einen Vorteil: Man kann sich mit seiner Beute auf eine Bank am Klosterplatz setzen, die Sonne im Gesicht, die barocke Pracht der Kathedrale im Rücken und den Geschmack von Kalbfleisch und Milch auf der Zunge. Das hat schon fast etwas Meditatives.

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