Untersee mit Konstanz & Hegau

Insel Reichenau: Wo der Bodensee Geschichte schrieb und Gemüse wachsen lässt

Die Reichenau ist mehr als nur eine Insel. Sie ist ein lebendiges Geschichtsbuch mit Gewächshäusern. Hier wachsen Gemüse und Weltkulturerbe nebeneinander – und beide gedeihen prächtig.

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Zwischenablage

Wer über den Damm auf die Reichenau fährt, merkt schnell: Das ist keine gewöhnliche Insel. Links und rechts glitzern Gewächshäuser in der Sonne, dazwischen breiten sich Gemüsefelder aus, die Erde leuchtet dunkel und fruchtbar. Dann tauchen romanische Kirchtürme auf, massiv und selbstbewusst, als würden sie sagen: Wir stehen hier schon über tausend Jahre. Die Reichenau ist mit ihren 4,5 Kilometern Länge und 1,5 Kilometern Breite das größte Eiland im Bodensee. Rund 3.300 Menschen leben hier, die meisten in den drei Dörfern Oberzell, Mittelzell und Niederzell. Seit 1838 verbindet ein aufgeschütteter Damm die Insel mit dem Festland – damals eine technische Meisterleistung, heute eine selbstverständliche Zufahrt.

Was die Reichenau allerdings wirklich besonders macht, ist die Tatsache, dass hier zwei Welten aufeinandertreffen. Auf der einen Seite das UNESCO-Weltkulturerbe mit seinen drei romanischen Kirchen, die zu den bedeutendsten Bauwerken des Mittelalters gehören. Auf der anderen Seite modernster Gemüseanbau, der die Insel zum südlichsten Gemüseanbaugebiet Deutschlands macht. Das passt zusammen, besser als man denkt.

Als Mönche Europa prägten

Im Jahr 724 gründete der Wanderbischof Pirmin auf der "reichen Au" ein Benediktinerkloster. Was als fromme Niederlassung begann, entwickelte sich zwischen 800 und 1100 zu einem der wichtigsten geistigen und kulturellen Zentren des Heiligen Römischen Reiches. Die Klosterbibliothek war gigantisch, die Schreibstube produzierte Handschriften für die Höfe Europas. Man könnte sagen, die Reichenau war der Copyshop des Mittelalters – nur dass hier keine billigen Kopien entstanden, sondern Meisterwerke der Buchmalerei.

Berühmt wurde die Reichenauer Malerschule vor allem im 10. und 11. Jahrhundert. Ihre Werke gelten als Höhepunkt ottonischer Kunst und wurden 2003 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe erklärt. Gleichzeitig entstanden auf der Insel wichtige Schriften wie der St. Galler Klosterplan, eine Art mittelalterliche Bauanleitung für das perfekte Kloster. Entworfen auf der Reichenau, aufbewahrt in St. Gallen – so teilten sich die beiden Klöster das geistige Erbe.

St. Georg und die Wunder Jesu

Spannend ist dabei vor allem die Kirche St. Georg in Oberzell. Ende des 9. Jahrhunderts erbaut, beherbergt sie in ihrer Krypta ein Schädelstück des heiligen Georg – zumindest glaubte man das im Mittelalter. Aber das eigentliche Highlight sind die Wandmalereien. Um das Jahr 1000 entstanden, zeigen sie acht Wunderszenen aus dem Leben Jesu: Heilungen, Totenerweckungen, die Stillung des Seesturms. Die Bilder sind vier Meter breit, zwei Meter hoch und rot umrandet. Sie gehören zu den ältesten und besterhaltenen Wandmalereien nördlich der Alpen.

1880 entdeckte man den Bilderzyklus unter einer Putzschicht. Seitdem streiten Fachleute über die Datierung – spätkarolingisch oder ottonisch? Egal, wann genau sie entstanden: Diese Fresken sind außergewöhnlich. Jesus wird übergroß dargestellt, um seine göttliche Macht zu zeigen, aber gleichzeitig wirkt er den Menschen nah. Damals konnte kaum jemand lesen, die Bilder waren Bibel für Analphabeten. Man sieht förmlich, wie die Gläubigen vor diesen Szenen standen und staunten.

Walahfrid Strabo und sein Gärtlein

Der Gemüseanbau auf der Reichenau hat tiefe historische Wurzeln. Um 840 schrieb der Mönch Walahfrid Strabo sein Lehrgedicht "Hortulus" – das Gärtlein. In 444 lateinischen Hexametern beschreibt er 24 Pflanzen: Salbei, Minze, Wermut, Fenchel, Rettich, Kürbis und andere. Er schildert, wie er im Frühjahr mit Brennnesseln kämpft, wie er den Boden umgräbt und bewässert. Walahfrid war kein weltfremder Schöngeist, er hatte Erde unter den Fingernägeln.

Sein "Hortulus" gilt als erstes Zeugnis über den Gartenbau in Deutschland. Der Kräutergarten war im Mittelalter essenziell: Er lag neben dem Haus des Arztes und der Apotheke, nahe beim Krankenhaus. Die Pflanzen dienten als Heilmittel, als Würze, manche auch zur Abwehr des Bösen. 1991 wurde der Kräutergarten nach historischem Vorbild innerhalb der alten Klostermauern neu angelegt. Man kann ihn besuchen, die Kräuter riechen, die Beete betrachten – und auf den kleinen Schildern Auszüge aus Walahfrids Gedicht lesen.

Vom Klostergarten zur Gemüseinsel

Heute bewirtschaften rund 60 Familienbetriebe etwa 80 Hektar Freiland und 40 Hektar Gewächshäuser auf der Insel. Auf dem angrenzenden Festland kommen weitere Flächen hinzu. Die Reichenau-Gemüse eG vermarktet die Ernte – etwa 14.000 Tonnen Frischgemüse pro Jahr. Das klingt nach Massenproduktion, ist es aber nicht. Die Betriebe sind klein bis mittelgroß, oft seit Generationen in Familienhand. Der Bioanteil liegt bei über 44 Prozent, Nachhaltigkeit wird großgeschrieben.

Das Klima begünstigt den Anbau erheblich. Die Lage im See und der Alpenföhn bescheren der Insel überdurchschnittlich viele Sonnentage. Der Bodensee wirkt als natürliche Klimaanlage: Im Frühjahr erwärmt sich der Boden schnell, im Herbst gibt der See seine gespeicherte Wärme ab. Bis zu drei Freilandernten im Jahr sind möglich. Das Wasser kommt direkt aus dem Bodensee – in Trinkwasserqualität. In den 1950er Jahren baute die Genossenschaft eine zentrale Wasserversorgungsanlage mit vier Seepumpwerken und 60 Kilometern unterirdischer Rohrleitungen.

Angebaut wird alles Mögliche: Tomaten, Salat, Auberginen, Paprika, Gurken, Kräuter. Die "Gurken von der Insel Reichenau g.g.A." sind sogar geschützt. Auf den Wochenmärkten rund um den Bodensee findet man überall Reichenauer Gemüse. In den Restaurants der Insel steht es prominent auf den Speisekarten. Ein knackiger Reichenauer Salat, dazu frische Bodenseefelchen – besser geht's nicht.

Die drei Kirchen: Romanik pur

Neben St. Georg gibt es noch zwei weitere romanische Kirchen auf der Insel. Das Münster St. Maria und Markus in Mittelzell war die ehemalige Klosterkirche der Benediktinerabtei. Teile des Baus wurden bereits 816 geweiht. Der gotische Chor, der später angefügt wurde, wirkt wie ein schreiender Kontrast zum romanischen Schiff – aber genau das macht den Reiz aus. Die Schatzkammer des Münsters birgt wertvolle Kunstschätze aus der Klosterzeit.

St. Peter und Paul in Niederzell ist die dritte im Bund. Ihre beiden Türme mit den roten Ziegeldächern ragen stattlich in den Himmel. Sie wirken vertraut, fast ein bisschen gemütlich – wie ein alter Verwandter mit seinen Ecken und Kanten. Alle drei Kirchen zusammen zeigen die Klarheit und Schönheit romanischer Architektur. Kein Schnickschnack, keine Überladung, nur klare Linien und massive Mauern.

Praktisches für den Besuch

Die Reichenau liegt im Untersee, dem westlichen Teil des Bodensees, zwischen Konstanz und Radolfzell. Ein Rundwanderweg führt über gut elf Kilometer an den wichtigsten Punkten vorbei. Der höchste Punkt der Insel, die Hochwart, liegt auf 438,7 Metern und bietet einen herrlichen Panoramablick.

Du kannst die Insel zu Fuß, mit dem Fahrrad oder bequem mit dem Auto erkunden. Die berühmten Wandmalereien in St. Georg sind von Mai bis September für den Individualtourismus allerdings geschlossen – dann finden Führungen statt. Das Infozentrum neben dem Alten Rathaus, die Infozentren bei St. Georg und St. Peter und Paul sowie das Museum im historischen Alten Rathaus bilden ein Informationsnetzwerk zum Weltkulturerbe. Hier erfährst du alles über die Baugeschichte, die Reichenauer Buchmalerei, den St. Galler Klosterplan und vieles mehr.

Zwischen Pappeln und Gemüsefeldern

Was die Reichenau so einzigartig macht, ist diese Mischung. Du stehst vor einer 1.000 Jahre alten Kirche mit ottonischen Wandmalereien – und im Hintergrund siehst du Gewächshäuser und Salatfelder. Du riechst frisch gemähtes Gras und Tomaten, die in der Sonne reifen. Das ist keine museale Kulisse, sondern gelebte Gegenwart. Die Insulaner gehen ihrer Arbeit nach, unaufgeregt und bodenständig. Manche Familien betreiben seit Generationen Gemüsebau, andere arbeiten im Tourismus oder pendeln aufs Festland.

Die berühmte Pappelallee, die zur Insel führt, ist ein Instagram-Motiv geworden. Im Sommer wirft sie lange Schatten auf die Straße, im Herbst leuchten die Blätter golden. Aber die Reichenau ist mehr als ein hübsches Fotomotiv. Sie ist ein Ort, an dem Geschichte und Gegenwart sich nicht widersprechen, sondern ergänzen.

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