Wer morgens um halb acht am „Vogelhäusle" in Konstanz steht und auf die NABU-Führung wartet, der fragt sich vielleicht: Warum so früh? Die Antwort liefert der erste Schritt ins Ried. Hier ticken die Uhren anders. Das Wollmatinger Ried ist kein Naturschutzgebiet, das man mal eben so durchspaziert – es ist ein lebendiges System, das vom Wasserstand des Bodensees abhängt wie kaum eine andere Landschaft.
Zwischen Konstanz und der Insel Reichenau erstreckt sich auf 767 Hektar das größte Naturreservat am deutschen Bodenseeufer. Schon seit 1930 steht es unter Schutz, damals zunächst für fünf Jahre, ab 1938 dann für immer. Was die Zahlen aber nicht verraten: In extremen Hochwasserjahren stehen bis zu 99 Prozent der Fläche unter Wasser. Im Winter hingegen fallen weite Teile trocken. Diese Dynamik prägt alles – die Pflanzen, die Tiere, die Art, wie man das Gebiet erleben kann.
Der Bodensee schwankt nämlich gewaltig. Im Februar liegt der Wasserstand am niedrigsten, dann steigt er mit der Schneeschmelze in den Alpen bis Juni oder Juli um etwa zwei Meter an. Manchmal sogar um 40 Zentimeter an einem einzigen Tag. Das Wollmatinger Ried liegt in einer fast ebenen Senke zwischen Bodanrück im Norden und dem Thurgauer Seerücken im Süden – perfekt, um diese Wassermassen aufzunehmen. Oder eben nicht aufzunehmen und unter Wasser zu verschwinden.
Drei Welten auf einem Fleck
Grob lässt sich das Ried in drei Lebensräume aufteilen, die jeweils etwa ein Drittel der Fläche einnehmen: Flachwasserzone, Schilfröhricht und Streuwiesen. Klingt simpel, ist es aber nicht.
Die Flachwasserzonen – das Ermatinger Becken und die Hegnebucht – sind das Reich der Wasservögel. Hier leben Kolbenenten, die ornithologische Kostbarkeit schlechthin am Bodensee. Im Herbst und Winter, wenn Zugvögel rasten und überwintern, tummeln sich bis zu 50.000 Vögel im Gebiet. Schnatter-, Krick-, Löffel-, Tafelenten – Hannah Schürhold vom NABU-Naturschutzzentrum kommt beim Aufzählen kaum hinterher. Schwarzhalstaucher, Singschwäne, das ganze Programm.
Dann das Schilf. Über 500 Meter breit wird der Schilfgürtel beiderseits des Reichenauer Damms. Fünf Meter hohe Halme, die täglich bis zu vier Zentimeter wachsen. Ein Urwald aus Schilfrohr, in dem Rohrweihen, Teichrohrsänger und die seltene Bartmeise brüten. Von außen sieht das eintönig aus – drinnen ist es ein hochproduktives Biotop, das das Ufer gegen Wellenschlag schützt und unzähligen Tieren Unterschlupf bietet.
Und schließlich die Streuwiesen. Im Mai verwandeln Tausende Sibirische Schwertlilien die Flächen in ein lilafarbenes Blütenmeer. Später dann Orchideen: Sumpf-Stendelwurz, Mücken-Händelwurz, Kleines Knabenkraut. Über 600 Pflanzenarten gibt es hier, mehr als 100 davon stehen auf der Roten Liste Baden-Württembergs. Die Sumpf-Siegwurz findet man nirgendwo sonst im Bundesland. Mehlprimeln mit rosafarbenen Blüten wachsen auf den quellig-feuchten Stellen.
Spannend ist dabei, dass es im Ried auch ausgesprochene Trockenstandorte gibt – auf den Strandwällen aus Kalk und Schneckenhäuschen, den sogenannten „Schnegglisande". Die werden vom Hochwasser nie erreicht. Dort wachsen dann plötzlich Küchenschellen, Kugelblumen und Frühlings-Enziane. Mitten im Feuchtgebiet.
Mehr als nur Vögel gucken
Über 290 Vogelarten wurden im Wollmatinger Ried nachgewiesen. Ein Drittel davon hat hier schon gebrütet. Für Ornithologen ist das Paradies pur. Aber auch wer mit Fernglas und Bestimmungsbuch nichts am Hut hat, kommt auf seine Kosten. Allein die schiere Masse an Vögeln im Herbst und Winter ist beeindruckend – wie ein lebendiger Teppich auf dem Wasser.
Dann gibt es noch die anderen Bewohner: über 330 Tag- und Nachtfalterarten, etwa 40 Libellenarten. Die Mooshummel hat hier einen ihrer wichtigsten Lebensräume. 2001 wurde sogar eine neue Bienenart entdeckt – die Furchenbiene. So was passiert in Europa nur äußerst selten.
Seit 1968 trägt das Wollmatinger Ried das Europadiplom des Europarates, eine Auszeichnung, die nur wenige Gebiete in Europa erhalten. 1973 wurde es zum Europareservat für Vogelschutz erklärt, seit 1976 zählt es zu den Feuchtgebieten internationaler Bedeutung nach der Ramsar-Konvention. Und dann noch Natura 2000, das europäische Schutzgebietssystem. Man kann sagen: Das Ried ist ziemlich wichtig.
Wie man reinkommt (oder auch nicht)
Das Kerngebiet des Wollmatinger Rieds ist für die Öffentlichkeit gesperrt. Punkt. Zu empfindlich sind Pflanzen und Tiere, zu groß die Störgefahr. Aber der NABU bietet über 200 Führungen pro Jahr an. Jeden ersten Sonntag im Monat um 8:30 Uhr startet eine öffentliche Tour, von April bis September auch samstags und mittwochs um 16 Uhr. Treffpunkt ist das „Vogelhäusle" an der Fritz-Arnoldstraße in Konstanz.
Die Führungen dauern etwa zwei bis drei Stunden, führen über fünf Kilometer durch die unterschiedlichen Lebensräume und beinhalten einen Stopp auf einer Beobachtungsplattform direkt am See. Kostet 10 Euro für Erwachsene, 5 Euro für Kinder, 20 Euro für Familien. Ferngläser kann man sich vor Ort ausleihen. NABU-Mitglieder zahlen weniger.
Wer auf eigene Faust unterwegs sein will, hat trotzdem Optionen. Der Infopfad am Wollmatinger Ried ist Teil des internationalen Bodenseepfades und teilt sich in zwei Bereiche: Der „Gottlieber Weg" startet an der Kläranlage Konstanz und führt entlang des Mühlegraben bis ans Ufer. 22 Infotafeln erklären die Streuwiesen und die Entstehung des Bodensees. Das Maskottchen Blässhuhn „Blässi" macht den Weg besonders für Kinder attraktiv.
Der zweite Teil verläuft entlang des Reichenauer Damms. Hier geht's um das Leben im Schilf. Das absolute Highlight ist die Beobachtungsplattform auf der Ruine Schopflen – spektakulärer Blick aufs Ermatinger Becken und den Gnadensee. Von dort kann man zur Brutzeit Rohrweihen, Zwergdommeln, Drosselrohrsänger und Bartmeisen beobachten. Zur Zugzeit versammeln sich auf den trocken liegenden Schlickflächen verschiedene Watvogelarten.
Eine dritte Beobachtungsplattform gibt's am Campingplatz in Hegne. Von der Schweizer Seite aus, etwa beim Strandbad Triboltingen, hat man ebenfalls einen guten Blick aufs Ermatinger Becken – im Winter die beste Stelle für Gründelenten sowie Sing- und Zwergschwäne.
Das NABU-Bodenseezentrum
Seit 1979 betreut die NABU-Gruppe Konstanz das Gebiet. 2018 entstand im Reichenauer Gewerbegebiet Göldern-Ost das NABU-Bodenseezentrum, das die bisherigen Besucherzentren vereint. Von hier aus werden 27 Schutzgebiete gepflegt, darunter der 1.000 Hektar umfassende Lebensraumverbund „Westlicher Untersee".
Die Ausstellung heißt „Fang die Sonne" und behandelt sowohl die Sonne im Allgemeinen als auch die Tiere und Pflanzen des Rieds im Besonderen. Geöffnet unter der Woche von 9 bis 12 Uhr und von 14 bis 17 Uhr, am Wochenende von 13 bis 15:30 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Was der NABU hier leistet, ist beachtlich. Winterliche Mahd der Streuwiesen, Entbuschen von Flächen, regelmäßige Bestandserfassungen von Vögeln und Pflanzen. Und dann die Überwachung: Wenn Störenfriede vom Wasser aus unerlaubt ins Gebiet eindringen wollen, sind ehrenamtliche Helfer im Hausboot „Netta" unterwegs und halten sie auf.
Wenn das Wasser kommt
1976 wurde im Ried ein Flachwasserteich mit Gräben, Inseln und Altschilfbereichen angelegt. Der Grund: Extreme Hochwasser mitten in der Brutzeit führen immer wieder zu Gelegeverlusten bei Wasservögeln. Im künstlichen Teich kann das Sommerhochwasser durch frühen Anstau vorweggenommen werden. Die Brutplätze bleiben geschützt, bis zu 40 Kolbenenten-Paare brüten hier jährlich. Nach dem Schlüpfen können die Entenmütter ihre Jungen zum nahrungsreichen Ermatinger Becken führen.
1994 kam ein zweiter Flachwasser-Wiesenteich im Osten des Reservats hinzu – für Gründelenten und Watvögel als Nahrungs- und Rastplatz. Solche Eingriffe sind natürlich paradox in einem Naturschutzgebiet. Aber sie zeigen, wie intensiv der Mensch hier mittlerweile ist – nicht als Zerstörer, sondern als Bewahrer einer Kulturlandschaft, die ohne Pflege verschwinden würde.
Die Streuwiesen sind nämlich Menschenwerk. Früher konnten Bauern sie wegen der Überflutungen nur einmal im Jahr mähen, nach dem Rückzug des Sommerhochwassers. Das hielt sie nährstoffarm und artenreich. Mit dem Rückgang der Viehhaltung in den 60er Jahren gaben die Landwirte auf. Seitdem erhält der Naturschutz diese Flächen künstlich – durch winterliche Mahd, wie sie früher üblich war.